Ein Code, den (nicht) jeder entziffert
Wie wir ungewollt unehrlich sind und damit viel mehr kaputt machen, als wir denken
Was es bedeutet, wenn ein Mitarbeiter „zur vollen Zufriedenheit“ arbeitet, wissen wir. Nämlich, dass er nicht „stets zur vollsten Zufriedenheit“ arbeitet. Dabei ist die volle Zufriedenheit im Grunde nur stilistisch zu steigern. Wie ein volles Glas nicht voller wird und erst recht nicht stets zum vollsten Glas werden kann, ist Arbeit „zur vollen Zufriedenheit“ doch eigentlich eine Aussage, dass der Mitarbeiter die Erwartungen an seine Arbeit erfüllt. Richtig! ... Eigentlich. Also falsch!
Hinter „zur vollen Zufriedenheit“ steckt ein kleiner Fauli oder jemand, der deutlich effizienter arbeitet als effektiv. Jedenfalls macht diese Aussage den Leser stutzig und regt zu Interpretation an. Ferndiagnostisch sucht man in weiteren Zeilen des Arbeitszeugnisses, welche Persönlichkeitsstörung der Bewerber hat. Dabei sind Superlative hinsichtlich ihrer Bedeutung auch zu hinterfragen: „Und, wie war der Film?“ „Oh, er war spitzenklasse, herausragend, absolut fantastisch, geradezu episch und nicht nur in seinem Genre der wohl beste Film, der je produziert wurde.“
Auf den Bewerber als Filmkritiker würde man mit „Okay, wir melden uns.“ reagieren und den Film würde man sich auch nicht anschauen.
Wir sind in der Arbeitswelt weit weg von der einfachen Floskel „gut“, die eine völlig akzeptierte, erwartete und erwünschte Antwort auf die Frage nach unserem Wohl ist. Dieses „gut“ ist einfach nur Oberfläche und jeder weiß, dass eine tiefgründige Antwort inhaltlich umfangreicher wäre. Bei dem täglich verwendeten Code im Berufsleben sind wir jedoch in eben jenen Tiefen und verfälschen dort bewusst und unbewusst Nachrichten.
„Es war eine schwere Entscheidung, wer die neue Führungskraft wird. Alle haben ganz hervorragende Testergebnisse erzielt und jeder Einzelne ist für die Stelle qualifiziert. Obwohl wir wirklich lange überlegt und abgewogen haben, …“ ist es genau die Person geworden, die alle erwartet hatten. Unter diesen „qualifizierten“ Bewerbern sind nun auch jene, deren Selbstbild durch solche Aussagen bestärkt wird und die sich anderswo auf eine Stelle als Führungskraft bewerben. In ihrem Arbeitszeugnis steht dann, dass sie „zur vollen Zufriedenheit“ gearbeitet haben und schlimmstenfalls wird es ab dann politisch.
Bestenfalls verhindern wir damit einfach nur persönliches Wachstum. Mitarbeiter sind nicht mehr in der Lage, eine realistische Selbsteinschätzung ihrer Arbeit durchzuführen. „Ich mach ja alles, was von mir erwartet wird.“ Wehe der Führungskraft, die es nun wagt, über zu erreichende Leistungsziele zu sprechen. Das wird schnell zu „unmenschlichem Druck im Unternehmen“ und dann wird der Betriebsrat eingeschaltet, der schon lange der Meinung ist, dass viel mehr für das Wohl der Mitarbeiter getan werden muss.
Gut, ab jetzt bedanken wir uns am besten nur noch für den Arbeitseinsatz. Dank und Wertschätzung werden pauschal einfach immer geäußert. So fängt ja auch ein Feedback nach Sandwich-Methode an. Ein Mitarbeiter war 5 Wochen krank nachdem er zwei Monate lang die KPI nicht erfüllte? … Erstmal Dank für seinen Arbeitseinsatz und Lob für seine Leistungsbereitschaft äußern. Dann vorsichtig ansprechen, dass das Team – nicht der Mitarbeiter selbst – aktuell bestimmte Leistungsziele erreichen muss, damit das Projekt erfolgreich ist, worauf der Mitarbeiter antwortet, dass er ja schon immer alles macht, was ihm möglich ist. Dafür bedankt man sich artig und schon hat man dieses schwierige Feedback-Gespräch hinter sich gebracht.
Die Konsequenzen dieser Kommunikation in Unternehmen sind in vielerlei Hinsicht schädlich. Sehr gute Mitarbeiter zweifeln ihre Leistung an. Sie sehen ja jeden Tag, was sie selbst leisten und was einige ihrer Kollegen (nicht) leisten. Sie erkennen auch die Unterschiede der Ergebnisse. Wenn jetzt aber offenkundig auch jene Mitarbeiter mit verbalen Handküssen gelobt werden, die viele Fehler machen oder bestimmte Ziele nicht erreichen und die Top-Performer erfahren Anerkennung mit gleichem Wortlaut... auf welcher Skala misst man dann Leistung?
Schlimmer noch. Bedingungsloses Wohlwollen führt zu ähnlichen Resultaten, wie bedingungslose Liebe. Wenn Menschen bedingungslos geliebt werden, haben sie einen implizierten Darf-Schein. Sie dürfen dann auch lügen, betrügen, stehlen und verletzen. Liebe erfahren sie trotzdem. Zumindest laut Bedeutung des Wortes „bedingungslos“.
Und wieder sprechen wir Code. Sowohl in der Liebe als auch bei der Arbeit sind wir nämlich enttäuscht, wenn unsere Mitmenschen bestimmte Erwartungen nicht erfüllen. Pünktlichkeit ist so eine Erwartung, die wir äußern dürfen. Da gibt es rechtliche Vorgaben. Also, bei der Arbeit… nicht in der Liebe. Regelmäßige Unpünktlichkeit darf sanktioniert werden. So müssen wir nicht enttäuscht sein.
Leistung ist eine Erwartung, die nicht offen angesprochen wird. Hier gebrauchen wir einen Code, von dem wir nur hoffen können, dass er verstanden wird: „Arbeite bitte stets zu unserer vollsten Zufriedenheit.“
Weil der Code nicht kollektiv verstanden wird (-> „Mach ich ja!“), sind wir von unseren Mitarbeitern enttäuscht. Sie machen nicht das, was wir von ihnen erwarten. Deswegen kontrollieren wir. Deswegen gibt es Qualitätsmaßnahmen. Deswegen müssen wir uns überlegen, wie wir unsere Mitarbeiter dazu bringen, Leistungsziele zu erreichen ohne negativen Druck auszuüben.
Das zuvor kommunizierte, bedingungslose Wohlwollen stößt dann auch sauer bei den Mitarbeitern auf, die sich über die erste Abmahnung für Unpünktlichkeit beschweren und auf diversen Online-Portalen negative Bewertungen bezüglich des Leistungsdrucks im Unternehmen schreiben. "Von wegen, man soll sich bei der Arbeit wohlfühlen..."
Und dann ärgern wir uns über Millennials und über Gen Y und Z, die „nicht mehr zu führen sind“. Dann sind wir enttäuscht von so wenig Eigeninitiative, so wenig Verantwortungsbewusstsein. Wir haben Meinungen über unsere Mitarbeiter, die wir nur hinter verschlossenen Türen über sie äußern. Wir kennen jede ihrer Persönlichkeitsstörungen und verstecken sie in Floskeln in einem Arbeitszeugnis, das der Mitarbeiter erhält, wenn man „erkannt hat, dass man unterschiedliche Ziele verfolgt“ oder „beruflich neue Wege gehen will“.
Wer des Vertrauens sicher ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Wert.
- Friedrich Nietzsche
Es kann so einfach sein
Wenn wir Mitarbeitern gegenüber ehrlich sein wollen, benötigen wir ein gemeinsames Verständnis darüber, welche realistischen Anforderungen an die Arbeit der Mitarbeiter gestellt werden.
„Wir wollen zufriedene Kunden. Du sorgst mit Deiner Arbeit dafür, dass unsere Kunden zufrieden sind. Damit wir nachvollziehen können, ob unsere Kunden zufrieden sind, messen wir die Leistung unseres Unternehmens und auch Deine Leistung anhand verschiedener KPI.“ Wird diese simple Aussage vom Mitarbeiter verstanden und zum eigenen Anspruch seiner Arbeit, wird er folgende Äußerung nicht von sich weisen, wenn sie begründet ist: „Wir sind momentan mit Deiner Leistung bei der Arbeit nicht zufrieden.“
Der Mitarbeiter ist sehr wahrscheinlich selbst nicht mit seiner Leistung zufrieden. In einer gesunden Unternehmenskultur ist er sogar froh, dass es jemand erkannt hat. Anderenfalls wird er interessiert erfragen, warum seine Leistung gerade nicht den Erwartungen entspricht. Er hat den Anspruch schließlich verinnerlicht und möchte dazu beitragen, dass die Kunden des Unternehmens zufrieden sind. Umso überraschender wäre es für ihn, wenn er das aktuell nicht tut. In einer dritten Variante kann es offensichtlich werden, dass der Mitarbeiter die Anforderungen an seine Arbeit nicht verinnerlicht und zum eigenen Anspruch gemacht hat. Dann offenbart er ggf., dass er sich nicht in der Lage sieht, wirklich jeden Kunden zufriedenzustellen. Sind die Erwartungen an seine Arbeitsleistung realistisch, ändert das inhaltlich jedoch nichts an der Aussage, dass man momentan mit seiner Leistung unzufrieden ist. Diese Aussage kann der Mitarbeiter auch verdauen, wenn man mit ihm gemeinsam daran arbeitet, dass er zum Teamerfolg beitragen kann. Man steckt ihn nicht ungefragt in eine Maßnahme. Man macht das, was er mit den Kunden machen soll: man fragt, ermittelt seinen Bedarf, man gleicht gegenseitige Erwartungen ab und man findet gemeinsam Lösungen.
Schafft es dieser Mitarbeiter dann, Erwartungen an seine Arbeitsleistung mit konstanter Zuverlässigkeit zu erfüllen, schreibt man in sein Arbeitszeugnis, dass er stets zur vollsten Zufriedenheit gearbeitet hat.
Während das auf Papier noch immer eine unehrliche Floskel ist, war man im Arbeitsalltag ehrlich mit ihm. Das ist wichtig.